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Frau Frieden geht auf Reisen

Ein modernes Märchen, das uns in Erinnerung ruft, wie zerbrechlich vermeintlich ewige Sicherheiten sind. Und wie wertvoll Dinge, die zu beschützen wir oft vergessen.

Frau Frieden, die mit allen stets so liebenswürdig und freundlich gewesen war, hatte auf einmal die Nase voll davon, immer ignoriert zu werden. Niemanden schien es zu interessieren, was sie mit ihrer Arbeit alles bewirkte: dass die Menschen etwa in ordentlichen Häusern wohnen, ruhig schlafen und im Lebensmittelgeschäft aus vollen Regalen auswählen konnten. Und so beschloss sie eines Tages, auf Reisen zu gehen.

Kaum war sie weg, fühlten sich die Menschen schon beim Aufwachen irgendwie unwohl. Zwar war der Himmel derselbe wie immer, das Wasser schmeckte wie am Tag zuvor, doch etwas hatte sich verändert. An den roten Ampeln musste man länger warten, die Mitmenschen wirkten misstrauisch und verärgert, klammerten ihre Taschen fester an sich. Manchmal sagte jemand: „Das Wetter schlägt um“. Doch es war nicht das Wetter oder die Tatsache, dass der Herbst kam. Es war ganz einfach, dass Frau Frieden die Lust daran verloren hatte, sich voller Courage für ihr Anliegen stark zu machen. Sie war gegangen, und nun fehlte überall Frau Friedens Mut. Frau Frieden, die sich für wirklich alle Menschen und Lebewesen eingesetzt hatte, war nicht mehr da.

Der Pass der Frau Frieden wurde auf ihrer Reise durch die ganze Welt oft äußerst schmerzhaft abgestempelt. In Gaza besaß der Einreisestempel die Form von Drohnensplittern und der Himmel über ihr dehnte sich endlos, weil sämtliche Hausdächer und Zimmerdecken eingestürzt waren. In Krankenhäuser, wo die Kranken unter zeltartig aufgehängten Betttüchern lagen und die Menschen mit leerem Blick auf etwas warteten, was eher nicht mehr kommen würde, sagte man der Frau Frieden, dass hier kein Platz sei für sie.

In Mogadischu war der Einreisestempel verblasst wie eine Fotografie, die 30 Jahre lang in der Sonne gelegen hatte. Auf der Straße hob Frau Frieden ein Schulheft auf, in dem ein Kind das Alphabet angefangen und nie zu Ende geschrieben hatte. „Kommen Sie wieder, wenn wir wieder Zeit zum Lernen haben und nicht mehr kämpfen müssen“, sagten ihr die Kinder.

In Kiew gab es überhaupt keinen Stempel; es hieß, eine fremde Macht wolle sich hier alles unter den Nagel reißen. Frau Frieden blickt durch die zerbrochenen Fenster eines verlassenen Hauses in ein Esszimmer, wo ein Tisch mit dem guten Besteck gedeckt und dann fluchtartig zurückgelassen worden war. „Setzen Sie sich doch“, forderten die Stühle sie auf. „Wie kann ich mich zu Tisch setzen, wo niemand meinen Namen kennt?“, antwortete sie.

Auf dem tausend Jahre alten Bazar von Teheran näherte sie der Frau Frieden eine alte Frau und flüsterte ihr ins Ohr: „Wenn Ihre Brüder Menschenrechte nicht zu uns kommen, können auch Sie nicht hier sein.“ Und da verstand Frau Frieden, dass sie erst dann, wenn jeder Mensch sein kann, wer er will, und sich nicht blind einem fremden Willen unterwerfen muss, dass sie erst dann mit wehendem Haar durch die Straßen würden laufen können.

Und während Frau Frieden so durch die Welt reiste, wurde bei uns im Land die Stimmung immer schlechter. Rücksichtsloser Lärm nahm zu, in den Mietshäusern grüßten sich die Menschen nicht, in den Büros schickte man sich nur noch kalte Mails, statt miteinander zu reden. Der Frieden fehlte auch in den kleinen Dingen: Niemand entschuldigte oder bedankte sich mehr.

In den Orten, die sie besucht hatte, ließ Frau Frieden kleine Briefchen zurück.

Gaza: „Ich komme zurück, wenn es wieder Platz gibt für Namen, nicht nur für Zahlen, wer mehr Menschen getötet hat. Ich komme zurück, wenn aus Korridoren wieder Straßen geworden sind und aus Sirenengeheul Schlaflieder für die Kinder.“

Mogadischu: „Ich komme zurück, wenn das Meer all die Fluchten vergessen hat, die hier stattgefunden haben. Ich komme zurück, wenn Essen nicht mehr zur Erpressung dient, sondern die Normalität auf den Tischen darstellt.“

Ukraine: „Ich komme zurück, wenn in den Fenstern wieder Vorhänge hängen und es keine vorläufige Geografie mehr gibt.“

Iran: „Ich komme zurück, wenn keiner mehr um Erlaubnis dafür bitten muss, zu sein, wer er will.“

Und bei uns im Lande: „Ich komme zurück, wenn euch wieder eingefallen ist, dass ich kein Einrichtungsgegenstand bin.“

An einem Bahnhof setzte sich Frau Frieden auf eine Bank, neben sich ihren Koffer voller Träume: von Krankenhäusern ohne Gewaltopfer, von offenen Grenzen, von Plätzen, auf denen Kinder Fußball spielen. Da kam ein kleines Mädchen vorbei und sagte mit trauriger Stimme: „Ich bin allein“. Frau Frieden antwortete: „Ich auch“.

Endlich begriffen die Menschen: Das schlechte Gefühl, dass sie alle hatten, war die nostalgische Sehnsucht nach etwas, das sie immer für selbstverständlich gehalten hatten. Nach Frieden. Was also tun? Jemand schlug ein Ritual vor. Man sollte sich jeden Morgen fragen, welches kleine Stück Frieden man heute selbst bewirken könne. Jemanden anzurufen, statt auf dem Handy Reels zu gucken. Beim Mittagstisch einen zusätzlichen Teller hinzustellen. Nein zu sagen zu Dingen, die andere Menschen ausschließen. Und ja zu solchen, die sie einschließen.

Leise, aber aus vielen Mündern, hörte Frau Frieden, die reglos auf ihrer Bahnhofsbank verharrt hatte, nun ihren Namen rufen. Und so nahm sie ihren Koffer und erhob sich, um nach Hause zu kehren.

Liebe Frau Frieden, bitte kehre zurück – und gehe nie wieder fort. Kehre nach Gaza, nach Mogadischu, nach Kiew und nach Teheran zurück. Kehre zurück in unsere Küchen, unsere Büros, unsere Herzen. Denn ohne dich mag der Himmel zwar dieselbe Farbe haben wie immer. Doch ohne dich ist die Welt kein schöner Ort.

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