LA NEWSLETTER DI MICHIL

Ich will mich nicht fremd fühlen in der Heimat

Dem Recht aufs Weggehen entspricht das Recht zu bleiben,
denn weggehen und bleiben sind zwei entgegengesetzte Pole der Menschheit

Manchmal möchte ich nur noch weg hier. In diesem wunderbaren Land fühle ich mich wie ein Heimatloser. Ich spüre, wie mir die Heimat unter den Füßen fehlt. Denn Heimat ist nicht nur ein Ort, Heimat ist eine Dimension. Sie bedeutet, Teil einer Geschichte zu sein. Sie ist ein hehrer Gedanke und ein Gefühl. Ein sich Wohlfühlen in der Gemeinschaft.

Ich habe südtirolerische und ladinische Wurzeln. Die Muttersprache meiner Mutter ist Deutsch, die meines Vaters Ladinisch. Doch das ist es nicht, weswegen mir meine italienische Heimat fehlt. Mein Gefühl des Verlorenseins hat nichts mit der Sprache zu tun. Das Italienische ist meine dritte Sprache, die Sprache, in der ich normalerweise lese, die Sprache der Lieder, die ich kenne, die Sprache, in der ich denke und in der ich manchmal auch träume. Das Italienische ist für mich die Sprache des Herzens, der Liebe. (Leider ist es heute auch eine Sprache, die viel zu oft misshandelt und verhunzt wird). Nein, ich fühle mich meiner Heimat aus ganz anderen Gründen entfremdet. Die permanente politische Instabilität, die Oberflächlichkeit, der touristische Bettenbauwahn ohne jede wahre Gastgeberqualitäten, die mit Füßen getretene Natur, der immer stärker spürbare Mangel an echten und auch kommunizierten Werten, der die ungebremste, anfallsartige Produktion an Konsumgütern gegenübersteht. Und wo wir schon von Konsum sprechen: Was mir wirklich zusetzt, ist der Landfraß samt Rückkehr zur Kohleverheizung, und eine Energiewende noch vor einer Umweltwende. Das alles ist es, was meine Heimat kaputtmacht.

Wo beginnt Heimat? Wo hört sie auf? Was sind meine Wurzeln? Und wenn Heimat nur ein Gefühl ist, wie wichtig sind dann überhaupt noch Wurzeln? Die Antwort liegt in Wurzeln, die sich in Bewegung befinden. Wir alle sind in permanenter Bewegung, sind Teil eines unaufhörlichen Wandels, der für Veränderung sorgt, auch in uns selbst. Die ladinischen Dolomitentäler, als UNESCO-Welterbe zu einer Art Blechorden für die stolzgeschwellte Einheimischenbrust verkommen, werden nie wieder die harmonisch geformten Landschaften sein, die sich an ihren eigenen Grenzen halten. Sie sind zu einer Polis geworden, die sich permanent transformiert, so wie auch das Italien, in dem sie liegen, sich permanent weiterbewegt, wächst, konsumiert. Unersättlich und unzufrieden, während eine soziale und Umweltkrise sondergleichen heranwogt. Es stimmt schon: Wenn man in den Dolomiten lebt, fällt es einem vielleicht ein bisschen schwerer zu begreifen als anderswo, was im restlichen Italien passiert. Klar, es kann immer noch schlimmer kommen. Doch die richtigen Maßstäbe darf man nicht unten im Sumpf suchen. Man muss den Blick nach oben richten.

Mir reicht es nun mal nicht, mich mit meiner kleinen, örtlich genau beschränkten Heimat zufriedenzugeben. Mir reicht es nicht, mich am Anblick unseres schönen Hotels zu erfreuen, Komplimente entgegenzunehmen und freundlich in die Gegend zu lächeln. Ich finde es zwar durchaus verständlich und vor allem höchst beneidenswert, wenn jemand nur den schönen Schein wahrnehmen kann. Und dann – vielleicht auch, weil ihm nicht klar ist, in welch privilegierten Verhältnissen er lebt – hier bei uns sein ganzes, glückliches Heimatgefühl auslebt. Ich bin dazu nicht in der Lage. Mir würde es nicht reichen. Doch wer diese Dinge verinnerlicht, der leidet.

Man muss nicht unbedingt physisch leben in der Heimat. Man kann mit ihr auch eine Art „co-housing“ betreiben, bei dem einem die ladinische oder italienische Heimat im Herzen sitzt, während man selbst physisch ganz woanders ist und insgeheim von der großen Kunst, der Mittelmeerküche und der melodischen Muttersprache träumt. An die Orte der eigenen Kindheit zu denken, während man selbst gerade in New York oder Taiwan – gut, Taiwan vielleicht besser nicht in diesen Zeiten – seinem Broterwerb nachgeht, lässt einen das lieben, was ein Teil von einem selbst und eines Heimat ist. Gleichzeitig lässt es einen aber auch leiden. Denn die Entfernung und die anderen, ungewohnten Sitten verstärken das – genau –Heimweh.

Was ist also schlimmer? In einem fernen Land zu leben und an die Heimat zu denken, diesen wichtigen Teil von sich, und anzuerkennen, dass auch die diese Heimat das Objekt unaufhaltsamer Metamorphosen ist und über die Jahre nicht mehr wiederzuerkennen sein wird, hässlich werden wird, unbehaglich, gar fremd? Oder in engstem Kontakt mit einer Heimat leben, die einem in keiner Weise mehr genügt? Es ist die ewige Zukunft, die uns die Möglichkeit, ja, sogar die Verpflichtung gibt, zu handeln. Heimat ist ein Instrument, mit dem wir unsere Ziele verfolgen, unsere Wunschvorstellungen, unsere Ambitionen. Heimat ist Geschichte, Kultur, Denken und Gefühl. Wir selbst sind es, die wir hier leben – in Ladinien, in Südtirol, in Italien – und die wir diese Heimat schaffen oder auch durch ihre Verwandlung neu schaffen müssen. Wir müssen Energie daransetzen, Willenskraft und Sorgfalt. In dem, was wir tun, aber auch in dem, was wir denken, wie wir sprechen. Wir sind noch nicht ganz wieder zu Barbaren geworden. Noch können wir einander gut verstehen, gut miteinander sprechen, die Worte wägen, um nicht nichtige Gedanken zu listigem Geschwätz zu reduzieren. Vielleicht liegt hier auch der Anfang von all dem, was wir tun können: Im zivilen Sprachgebrauch, in der Kunst der Diskussion, der Kultur des Dialogs. Wenn die Diskussionen mit meiner Mutter auf Deutsch die Oberhand behalten, die Überlegungen mit meinen Brüdern und meinem Vater auf Ladinisch, die Liebeserklärungen auf Italienisch, wenn also diese Sprachen in unserem Tal die Oberhand behalten, wenn in unserem Bel Paese ein schönes, gepflegtes und höfliches Italienisch gesprochen wird, wenn wir damit erst einmal anfangen, dann fühlt sich das Leben in diesem Land vielleicht gar nicht mehr so fremd an. Wir müssen einander ja verstehen können, wenn wir im schönsten Land der Welt schöne Dinge tun wollen. Und diese Fähigkeit besitzen wir alle. Es muss uns gelingen, uns wieder eine Identität zu verschaffen. Und es wird uns gelingen. Erstens, weil wir uns ganz sicher in Richtung Schönheit weiterentwickeln werden, und zweitens, weil das Exil auch keine Lösung ist. Zu diesem Zwecke möchte ich hier den Anthropologen Vito Teti zitieren. Teti schreibt, dass das Weggehen von einem Ort oder das Dortbleiben zwei entgegensetzte Pole der Menschheit sind. Jeder hat das Recht, auszuwandern – und jeder hat das Recht dort zu bleiben, wo er geboren wurde. In einem Ort zu bleiben, bedeutet jedoch nicht zwangsläufig auch zuzulassen, dass dieser Ort unverändert bleibt. Wir können uns verwurzelt und zugleich verloren an einem Ort fühlen, denn wir einerseits bewahren und andererseits radikal verändern wollen. Alles ganz normal.