CORTINA ODER WIE MODERN IST OLYMPIA

Lärchenfällen, die neue olympische Disziplin

450 alte Bäume sollen für eine Bobbahn geopfert werden. Dabei gibt es schon eine

Der Orkan Vaja, der Hunderttausende Bäume in unseren Dolomitentälern entwurzelt und enorme Waldgebiete zerstört hat, war nicht genug. Der Borkenkäfer, der mit unerhörter Virulenz die Lärchen unserer Berge sterben lässt, war nicht genug. Nein, es brauchte noch das Olympische Komitee von Cortina, um den Bäumen endgültig den Garaus zu machen. Denn das Komitee hat beschlossen, 450 alte Lärchen zu fällen, um Platz für eine neue Bobbahn zu schaffen. Das Seltsame ist – aber auch wieder nicht wirklich überraschend, wenn man die Brüder dort kennt – dass es bereits eine Bobbahn gibt in Cortina. Ein bisschen abgenutzt, okay. Aber wenn man die Zeit genutzt hätte, dann wäre sie jetzt wieder perfekt in Schuss, piccobello und bereit für ihren Einsatz. Ein paar Reparatur- und Auffrischungsmaßnahmen hätten gereicht, aber Renovierungen interessieren natürlich Leute nicht, die ihr Geld mit Spekulation verdienen wollen. Die Wiederinbetriebnahme der alten Bobbahn wäre noch nicht mal die einzige Lösung gewesen: Wie jeder weiß, steht in Innsbruck – nur einen Katzensprung entfernt – eine wunderbare, schöne, einsatzfähige Bobbahn. Sie eignete sich perfekt für die olympischen Rennen. Aber nein. Lieber werden Hunderte von Bäumen gefällt, wird Beton in die Landschaft geklatscht, wird Schönheit zerstört, nur um der sinnlosen, kranken, ausufernden und zerstörerischen Spekulationswut Platz zu machen. Damit Gewinn gemacht werden kann. Die Rechnung dafür zahlt wieder mal die Natur. Hinter all dem steht eine gleichermaßen kurzsichtige wie bornierte Vision der Welt, aber das ist ja nichts Neues. Wie lange schon wiederholen wir gebetsmühlenhaft immer dasselbe? Leider vergeblich. Und ich kann mir schon vorstellen, wie uns die Herren der Olympischen Ringe wieder zu beschwichtigen versuchen: Guckt mal, wir pflanzen hier ein paar Bäumchen, setzen dort was Grünes hin, nervt jetzt bitte nicht, denn wir handeln doch ausschließlich nach Nachhaltigkeitskriterien.

Nachhaltigkeit. Ein Wort, das ich nicht mehr hören kann. Nicht, weil es nicht schön und erbaulich wäre, sondern weil es derart missbraucht wird, dass es seinen wahren Gehalt längst verloren hat. Das Fällen der Lärchen ist ein Akt, der dem herrschenden Zeitgeist widerspricht. Er vergewaltigt die Berge. Berge, die nicht mehr können, die um Schonung bitten. Sehr, sehr viele Menschen, die in unseren Tälern leben, haben begriffen, dass es so nicht weitergehen kann, und auch ich beschwere mich nicht etwa deshalb, weil ich zu altmodisch oder von gestern wäre. Im Gegenteil. Wir müssen unsere Berge mit neuen Augen zu sehen lernen, damit wir die Zukunft neu denken können. Lärchen oder allgemein Bäume zu fällen ist ein Akt aus der Vergangenheit, längst überholt, so etwas macht man schon lange nicht mehr. Es ist von gestern, so wie unsere Politiker von gestern sind – kurzsichtig, wenn nicht sogar blind. Das Veneto hält den Weltrekord an verlassenden Fabrikhallen. Schon vor Jahrzehnten sprach der Dichter Andrea Zanzotto vom Fortschritt als Strick. Haben wir immer noch nichts gelernt? Wir sind wirklich Dumm-Bürger, mit Eselsohren an Stelle der Wollmütze. Und wieder werden wir das Examen nicht bestehen, obwohl Mutter Natur uns doch seit jeher immer dasselbe zu lehren versucht, mitunter sogar mit hartnäckiger Gewalt.

Ach ja, eines noch zum Schluss: Wieviele Italiener und Italienerinnen fahren eigentlich Bob? Wahrscheinlich weniger als die 450 Lärchen, die gefällt werden sollen. Vor einiger Zeit war ich in Cortina eingeladen, um vor Schülern und Schülerinnen zu sprechen. Ich erzählte von meinen Bedenken hinsichtlich der Olympischen Spielen in Cortina-Ladinien. Ach nein, sorry, es heißt ja Cortina-Mailand. Jedenfalls erhob sich ein Mädchen und sagte: „Mit der Bobbahn können auch wir endlich wieder bobfahren. So wie damals mein Großvater“. Klar, ein legitimer Wunsch. Es lebe der Bob! Doch die armen Lärchen. Und wir armen Menschen.